Zuflucht - Zuversicht - Zukunft

Essenrode

Essenrode

Ansichtskarte; Essenrode ca.1955; privat

Das Jahr 1945 hat den Ort Essenrode in besonderer Weise geprägt. In das Dorf kommen mit Ende des Krieges Flüchtlinge und Vertriebene aus Pommern, West- und Ostpreußen, Schlesien, dem Sudeten- und Wartheland, Bessarabien, dem Baltikum, Galizien und anderen Regionen der ehemaligen Ostgebiete.

In den Folgejahren fliehen dann auch Menschen aus dem sowjetisch besetzen Teil Deutschlands und später der DDR nach Essenrode.

Essenrode um 1830; Quelle: Erzenrod - Eine Dorfbeschreibung im Jubiläumsjahr [1996] von Hartmut Bosse

Das kleine Dorf Essenrode verdoppelte nahezu seine Einwohnerzahl durch die Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen. Am 01.10.1928 hat Essenrode eine Gesamteinwohnerzahl von 558. Die Einwohnerzahlen bleiben bis 1945 bei unter 550. So beträgt z.B. 1937 die Einwohnerzahl 518. 1946 werden in Essenrode 973 Einwohner gezählt. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Essenrode#cite_note-gesch-3; abgerufen 21.02.2020, 11:10 Uhr

Essenrode um 1995; blau umrandet Essenrode bis 1945 Quelle: Erzenrod - Eine Dorfbeschreibung im Jubiläumsjahr [1996] von Hartmut Bosse

Zuflucht Essenrode

Die ankommenden Flüchtlinge und Vertriebenen werden auf die Familien des Ortes verteilt. Die Verteilung läuft nicht ohne Widerstände der aufnehmenden Familien, da der Ort zu diesem Zeitpunkt schon fast so viele Flüchtlinge wie Einwohner aufgenommen hat. Dazu kommen ausgebombte Familien aus Hamburg und Hannover. In einer der Bauernfamilien leben aus diesem Grund zeitweise 44 Menschen im Haus. Schließlich bekommen aber alle ein Dach über dem Kopf. Mit dem Ende des Krieges verändert sich der Ort. Das kleine Dorf verdoppelte nahezu seine Einwohnerzahl durch die Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen. Die auf den Höfen arbeitenden Kriegsgefangenen werden durch den Einzug der amerikanischen Soldaten Anfang April 1945 befreit und kehren in ihre Heimatländer zurück. Viele Ehemänner, Väter und Söhne der Familien im Ort sind nach dem Krieg noch nicht wieder zurückgekehrt oder befinden sich in Kriegsgefangenschaft. Nach und nach finden sie den Weg zu ihren Familien in Essenrode. Jedoch nicht alle kehren zurück. Sie gehören zu den unzähligen Toten eines schrecklichen Krieges.

Ansichtskarte; Essenrode Anfang der 60´er Jahre; privat

Noch Jahrzehnte später erinnern die Neuankömmlinge ihre ersten Erfahrungen im Ort. Sie erzählen von den Schwierigkeiten, den Vorbehalten, denen man ihnen entgegenbrachte, aber auch von der Hilfe und Unterstützung, die sie erfahren haben.

Du warst aber immer in Essenrode das Flüchtlingskind. Man hat es manchmal gespürt, dass man nicht von hier war.

Wenn du Flüchtlingskind warst, dann wurdest du schon von den anderen eingestuft. Denn die waren ja nicht begeistert, als die Flüchtlinge kamen. Die mussten zusammenrücken.

– Aus den Zeitzeugeninterviews, Essenrode 2019/2020

Fragt man heute die Menschen, die am Ende des Krieges nach Essenrode kamen, so ist ihr Urteil eindeutig. Auch wenn manche von ihnen zwischen ihrer Heimat und ihrem Zuhause unterscheiden, so fühlen sie sich heute als Essenroder und als Teil dieser Gemeinschaft.

Ich möchte Essenrode nicht missen. Essenrode ist mein Heimatort und er wird es auch bleiben.

– Aus den Zeitzeugeninterviews, Essenrode 2019/2020

Zuversicht in Essenrode

Die Menschen und der Ort stehen vor großen Herausforderungen. Für die ankommenden Flüchtlinge und Vertriebenen muss Wohnraum gefunden werden. Und es geht darum, Neuankömmlinge und Essenröder in einer Dorfgemeinschaft zu vereinen. Das Leben im Ort und in den Vereinen wird durch das “neue“ Miteinander und die größere Vielfalt geprägt. Viele der Menschen finden Arbeit auf den Bauernhöfen und dem Gut. Nach und nach bahnt sich im täglichen Miteinander ein neues Leben und die Zuversicht kehrt zurück. Neben der gemeinsamen Arbeit in der Landwirtschaft kehren die Menschen schon bald zum dörflichen Leben zurück. Gemeinsam feiern Neuankömmlinge und Alteingesessene, treiben Sport miteinander, singen gemeinsam im Chor oder engagieren sich in der Feuerwehr und den anderen Vereinen, dem Kirchenvorstand und anderen Gremien.

Ein Fest, bei dem sich vor allem die jungen Menschen vergnügen und näher kommen, ist das jährliche Fahnenjagen.
Das Fahnenjagen ist ein Ereignis für das ganze Dorf, insbesondere für die Jugend des Ortes. Es ist ein Wettbewerb für junge Männer. Sie reiten auf Pferden und müssen einen Stock durch einen hängenden kleinen Eisenring stechen. Derjenige, der es am besten kann, wird Fahnenkönig und bekommt eine Holzfahne. Diese Fahne wird in einem Umzug durch das Dorf zum Haus des Siegers getragen und an seinem Haus befestigt. Abends feiert das ganze Dorf bei einem gemeinsamen Tanzvergnügen.

Fahnenjagen 1957, Wilfried Wolter als Fahnenkönig; Foto: privat
Fahnenjagen 1948 in Essenrode; Foto: privat

Die Nachkriegszeit ist geprägt von dem Wunsch nach genügend Essen und nach einer Wohnung. Über dem eigenen, oft traumatisierenden Erleben während des Krieges und am Kriegsende, über der NS-Diktatur und dem Holocaust liegt ein Schweigen.

Die “Normalität” sollte wieder beginnen – nach dem Krieg, nach der Zeit der wirtschaftlichen und politischen Ungewissheit. Und tatsächlich: 1948 bekommen die Menschen mit der Währungsreform die Deutsche Mark und 1949 wird die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Die Deutschen in der Bundesrepublik geben sich eine neue Verfassung in der die Würde des Menschen einen besonderen Stellenwert erfährt. Eine neue Regierung mit Kanzler Adenauer wird gebildet und Bonn wird neue Hauptstadt.

In den fünfziger Jahren erfährt die junge Bundesrepublik ein enormes wirtschaftliches Wachstum – das sogenannte Wirtschaftswunder. Auch auf die Menschen in Essenrode hat dieses Wachstum Auswirkungen. Die Mechanisierung und Industrialisierung hält immer stärker Einzug. Während durch die Mechanisierung in der Landwirtschaft Arbeitskräfte frei werden, sucht das Volkswagenwerk in Wolfsburg dringend Arbeitskräfte. Viele der jungen Männer und später auch Frauen finden eine gut bezahlte Arbeit in der Automobilindustrie.

1/2 Million VW Käfer; Foto: privat
Blick auf die Neubausiedlung Neuer Kamp; Foto: privat

Nach und nach können sich die Menschen wieder etwas leisten. Ende der 1950er Jahre entstehen die ersten neuen Siedlungen, deren Straßen Namen tragen, die auf die Herkunftsorte der Neuankömmlinge hinweisen, z.B. Pommernweg und Schlesierweg. Das Eigenheim, der VW Käfer und die Urlaubsreise werden Wirklichkeit.

Zukunft

Noch heute leben viele Familien in Essenrode, deren Eltern, Groß- oder Urgroßeltern als Flüchtlinge oder Vertriebene nach Essenrode kamen und hier eine neue Heimat und ihre Zukunft fanden. Viele dieser Familiennamen sind im Ort und in den Vereinen präsent und auf besondere Weise mit der Geschichte des Ortes verbunden.

Die meisten der Flüchtlings- und Vertriebenfamilien sind in Essenrode geblieben. Ihre Namen findet man auch heute noch in Essenrode, denn viele ihrer Kinder und Enkelkinder und mittlerweile auch Urenkel sind in Essenrode geblieben. Sie sind ein nicht mehr wegzudenkender Teil der dörflichen Gemeinschaft.

Heute blicken die Menschen mit Dankbarkeit zurück. Essenrode ist ihr neues und sicheres Zuhause geworden. Essenrode ist für die Menschen eine sichere Basis geworden, von der aus sie und die nachfolgenden Generationen sich in der Welt entfalten und die Zukunft mitgestalten können und werden.

Essenrode heute; Foto: Bürgerverein Essenrode e.V.