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Flucht aus Tolkemit in Westpreußen

Die Flucht aus Tolkemit in Westpreußen

Anni Konnegen wird am 24. Januar 1932 in Tolkemit in Westpreußen geboren. An ihrem 13ten Geburtstag beginnt für Anni Konnegen gemeinsam mit ihrer 19-jährigen Schwester Grete die Flucht aus Tolkemit. Beide werden von der Familie getrennt und erst im November 1957 dürfen sie aus Polen zu ihren Eltern nach Essenrode ausreisen.

Anni Konnegen hat ihre Fluchterlebnisse in einem Buch festgehalten, das sie mit folgenden Worten beginnt:

Dieses Buch ist eine Reise zurück in meine Vergangenheit… und es erzählt die traurige Geschichte der Flucht aus unserem geliebten Zuhause…

Anni Konnegen in “Ostpreußen – meine Heimat mein zuhaus”

Anni Konnegen wird als jüngste Tochter der Familie Gehrmann in dem kleinen Städtchen Tolkemit in Westpreußen am Frischen Haff geboren.

Familie Gehrmann; v.l. Lene, Anni, Mutter, Tonie, Vater, Grete; Foto: privat

Vater Ferdinand arbeitet in der Ziegelei in Panklau. Als Anni acht Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter mit nur 42 Jahren. Annis Schwester Grete übernimmt nun die Verantwortung für den Haushalt und wird zum Mutterersatz. Bis zu ihrem Fluchtbeginn besucht Anni die Volksschule in Tolkemit während ihre Schwester Grete in der Töpferei “Tolkemiter Erde” arbeitet.

Administrative Gliederung des Reichsgau Danzig-Westpreußen; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Danzig-Westpreussen.png

Es war der 24. Januar 1945, mein 13ter Geburtstag. Eigentlich ein schöner Tag, doch es war der Tag der Flucht, der Tag an dem ich mit meiner Schwester Grete, damals 19 Jahre jung, unser Zuhause verlassen musste.

Am Nachmittag um 15 Uhr kamen die Vorboten der Russischen Armee aus Richtung Elbing und verstärkten sich bis zum Abend hin ins Unermessliche. Die Russen gingen in die Häuser, suchten sich Frauen und junge Mädchen aus und vergewaltigten sie.

Grete und ich versteckten uns oben im Kinderzimmer als Papa zu uns kam und sagte: “Kinder lauft!” Also liefen wir!!!

In der Frauenburger Straße wohnte Familie Neumann, mit dessen Tochter Grete befreundet war. Dort konnten wir uns verstecken. Zwei Tage lang. Leider wurden wir verraten und die Russen kamen und zündeten das Haus an. Vorne das Feuer und hinten liefen wir alle aus dem brennenden Haus. …

Um uns herum war nur noch das Pfeifen der Geschosse zu hören. Auf unsere Familie konnten wir nicht mehr warten. Sie flohen alle ein paar Tage später.

Anni Konnegen in “Ostpreußen – meine Heimat mein zuhaus”

Anni und Grete sind von ihrer Familie getrennt. Nachdem beide bereits seit Wochen unter widrigsten Bedingungen unterwegs sind, scheitert ihre Flucht gen Westen im März 1945. Wie viele andere Flüchtende werden auch Anni und Grete von den russichen Truppen überlaufen. Anni Konnegen schreibt dazu weiter:

Wohnhaus der Familie Gehrmann in Tolkemit (die erste Haushälfte vorn links); Foto: privat

Grete und ich hatten nur noch uns! … Meine Schwester erkrankte und bekam die Ruhr. … Nach Gretes Genesung bekamen wir eine Unterkunft bei Bauer Rägger in Wusterwitz, Kreis Schlawe. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon den Monat März. Wusterwitz wurde 2-3 Tage später geräumt und es ging weiter nach Stolp. … Auch dort hieß es ein paar Tage später wieder “Rette sich wer kann” die Brücken werden gesprengt … Wieder liefen wir! Allein! Immer dorthin wo viele Leute waren … bis wir dann in Starnitz ankamen.

In Starnitz blieben wir dann erstmal in der Schule. Allerdings schon unter russischer Aufsicht und die Einheimischen hießen uns auch nicht Willkommen. Dort bekam ich die Ruhr und Typhus. Grete wurde verschleppt und musste Bahnschienen entfernen, sodass ich nun ganz alleine war. Fremde Leute kümmerten sich ein wenig um mich.

Nach ein paar Wochen kam Grete wieder und wir fanden in Starnitz ein leerstehendes Zimmer mit zwei Betten und einer Ofenbank wo wir ein gutes Jahr Unterschlupf fanden. Anni Konnegen in “Ostpreußen – meine Heimat mein zuhaus”

Grete und Anni; Foto: privat

Anni und ihre Schwester finden Arbeit auf einem Gut Gottberg. Während Grete arbeitet, passt Anni auf russische Kinder auf. Zunächst steht alles noch unter russischer Verwaltung. Anni schreibt weiter:

Nun musste ich Essen besorgen und ging betteln und hamstern. Ein paar Bauersfrauen gaben mir öfter eine Kanne Haferschleim für Grete und mich. …

Während Grete arbeitete passte ich bei den Russen auf deren Kinder auf. So bekam ich eine kleine Mahlzeit am Tag und ein Junge schoss mir immer Spatzen zum Essen. Anni Konnegen in “Ostpreußen – meine Heimat mein zuhaus”

Im Sommer 1945 wird Tolkemit gemäß dem Potsdamer Abkommen neu zugeteilt. Zusammen mit ganz Hinterpommern, ganz Westpreußen und der südlichen Hälfte Ostpreußens wird es unter polnische Verwaltung gestellt und erhält den polnischen Ortsnamen Tolkmicko.

Auf dem Gut Gottberg lernt Anni ihren späteren Ehemann Erwin Konnegen kennen. Seine Flucht aus Ostpreußen endete ebenfalls hier und er hatte eine Arbeit als Traktorist bekommen.

Am 9. Oktober 1954 heirateten wir und Erwin zog zu uns. Nach der Hochzeit hörte ich mit der Arbeit auf dem Gut auf und wir erarbeiteten uns eine eigene Viehwirtschaft. Erwin und Grete arbeiteten auf dem Gut und ich kümmerte mich um Haushalt und Vieh, was mir sehr viel Freude bereitete. Wir hatten Schafe, Schweine, Ziegen, Hühner und Gänse. Es gab viel zu tun …

Anni Konnegen in “Ostpreußen – meine Heimat mein zuhaus”

1955 wird Sohn Wilfried und 1957 Tochter Marlis geboren. Anni hat nun eine eigene Familie gegründet und sich gemeinsam mit Ehemann und Schwester eine gute Lebensgrundlage geschaffen. Dennoch bleibt der Wunsch und die Sehnsucht, zu ihren Eltern zurück zu kehren.

Trotz dieser positiven Ereignisse arbeiteten wir all die Jahre weiter an unserer Ausreisegenehmigung nach Deutschland. Starnitz war ja von 1945 bis 1949 noch unter russischer Aufsicht und gehört seit 1949 zu Polen.

1956 hieß es, man sollte sich einpolen lassen, was wir nicht taten, mit der Begründung, wir wollten zu den Eltern nach Deutschland. So kam es, dass wir Polen Anfang November 1957 verlassen durften.

Anni Konnegen in “Ostpreußen – meine Heimat mein zuhaus”

Im Durchgangslager Friedland bei Göttingen verbringen Anni und ihre Familie eine Nacht. Am nächsten Tag holt Annis Vater sie von dort ab. Die Freude ist auf beiden Seiten groß! Ihr Ankommen in Essenrode beschreibt Anni später so:

Am vierten Tag unserer Einreise fing Erwin schon an zu arbeiten, Lenes Mann Erich hatte ihm einen Arbeitsplatz bei VW in Wolfsburg vermittelt, dem er bis zu seiner Rente nachging, genau wie Grete. Anni Konnegen in “Ostpreußen – meine Heimat mein zuhaus”

Nach über zwölf Jahren Trennung von Eltern und Familie war das Ankommen in Essenrode dann doch nicht so leicht wie erhofft. Auch wenn die Freude riesig war, dass man als Familie wieder an einem Ort vereint war, lagen doch ziemliche Herausforderungen vor den Neuankömmlingen.

Trotzdem begann für uns eine schwere Zeit! Es kam Weihnachten und wir hatten nichts.

Unterstützung von der Kirche oder Gemeinde bekamen wir nicht. Noch nicht einmal eine helfende Hand wurde uns gereicht. Ja, diese Weihnachten waren die schlimmsten und ich wünschte mich zurück nach Polen. Dort hatten wir ja mittlerweile alles. In dieser Zeit weinte ich viel und sagte immer wieder: “Wären wir doch bloß beim Polen geblieben!” Anni Konnegen in “Ostpreußen – meine Heimat mein zuhaus”

Doch Anni und ihre Familie geben nicht auf. Nach der Trennung von den Eltern, einer schrecklichen Flucht und dem Verlust von Hab und Gut hatten sie schon einmal vor einem totalen Neuanfang gestanden und ihn gemeistert. Reichte die Kraft und würde es auch ein zweites Mal gelingen?

So musten wir nochmal von vorne anfangen! Stück für Stück wieder alles aufbauen. Ich ging dann auch hier wieder auf dem Gut von Lüneburg etwas dazuverdienen.

Ja, so schafften wir es Geld zu sparen und wurden 1969 Bauherren. Wir bauten uns in einer Neubausiedlung im Heidekamp ein schönes Haus. Im Herbst 1970 waren wir also stolze Hausbesitzer.

So also nahm alles wieder seinen Lauf. Wilfried und Marlis wurden größer, gingen zu Schule und dann schon fast in die Lehre, als sich bei uns noch etwas Kleines ankündigte. Im Mai 1971 kam unser Nesthäkchen Sabine zur Welt. Anni Konnegen in “Ostpreußen – meine Heimat mein zuhaus”

Anni Konnegen hat es immer wieder nach Tolkemit ans Frische Haff gezogen. Zahlreiche Besuche mit ihren Kindern, Verwandten und Freunden führten sie immer wieder in ihre Heimat. Ihre Fluchterinnerungen schließt Anni Konnegen mit den Worten:

Die Zeit verging und mit den Jahren hatten wir uns in Essenrode ein neues “Zuhause” erschaffen. Es gab schöne, wie auch nicht so schöne Zeiten.

Aber meine “Heimat” wird immer Ostpreußen sein. Anni Konnegen in “Ostpreußen – meine Heimat mein zuhaus”